1. Bruchzahlen
Die Bruchzahlen verdankten ihre Existenz dem Bedürfnis, die
Zahl 1 nachträglich zu unterteilen, etwa weil sich beim Verteilen
eine Zahl nicht ohne Rest zerlegen ließ oder weil in späterer
Zeit kleinere Maß- oder Münzeinheiten eingeführt
wurden, z. B. in römischer Zeit 1 Scrupel = 1/24 Unze oder im
Mittelalter 1 Heller = 1/2 Pfennig.
Fast alle Hochkulturen der Antike entwickelten Bruchzahlen: die Inder,
Ägypter, Römer u. a. Unser Schreibschema der Brüche ist das der
Inder: Zähler oben und Nenner unten. Die Inder verzichteten auf die
Trennung beider durch den Bruchstrich. - Bild 1 zeigt mehrere Beispiele in
einer altindischen Version der Schrift Devanagari.
Die Ägypter entwickelten mit Ausnahme von 2/3 nur Stammbrüche,
d. h. Brüche mit dem Zähler 1 - siehe Bild 2.
Sie setzten über den Nenner ein Oval - Beispiele: 1/5, 1/12. Für
häufig benutzte Brüche: 1/2, 1/3, 2/3 und 1/4 gab es Sonderzeichen.
Die Römer entwickelten kein allgemeines Schreibschema für
Bruch- zahlen. Mit Bezug zur Münzeinheit 1 As schufen sie nur
Grundzeichen für
die Stammbrüche 1/2, 1/12 (eine Unze), 1/24, 1/48, 1/72, 1/144
und 1/288 (ein Scrupel). Die abgeleiteten Brüche wurden aus
Grundzeichen zusammengesetzt - Beispiele siehe Bild 3.
Die Zahlschriften der genannten Hochkulturen sind Dezimalsysteme,
d. h. die Zähleinheiten ganzer Zahlen sind 1, 10, 100,
1000 usw. Die nächst kleinere systemkonforme Zähleinheit
unterhalb von 1 ist 1/10. Trotz Erweiterung um die Zähleinheit
1/10 kann man lediglich Bruch- objekte der Größe 1/10, 1/5,
3/10, 2/5, 1/2, 3/5, 7/10, 4/5 und 9/10 quantifizieren. Um
Bruchobjekte wie 1/4 oder 1/8 zu erfassen, muss man die
Zähleinheiten 1/100, 1/1000 einführen. Bruchobjekte der
Größe 1/3, 1/6 lassen sich im System nicht exakt quantifizieren.
Die Schwierigkeit, häufig auftretende Bruchobjekte der Größe
1/4, 1/8, 1/3, 1/6 in das Dezimalsystem zu integrieren, war der
Grund für die Gen- ese der Bruchzahlen. Der überzeugendste
Beleg für diese Hypothese ist die Tatsache, dass das Zahlsystem
der Sumerer, die Keilschrift, ein Se- xagesimalsystem ist, das keine Brüche
kennt. Im Sexagesimalsystem sind die Zähleinheiten für ganze
Zahlen 1, 60, 3600, 216000 usw. In einer Zahl kann
eine Zähleinheit 0-mal, 1-mal, 2-mal, . . . , 59-mal vorkommen.
Die dafür nötigen Zeichen werden durch Kombination von Zehner-
und Einer-Keilen - siehe Bild 4 - dargestellt. Die Kombination von
Bild 5 bedeutet 45, wenn
es sich um die Zähleinheit 1 handelt, sie bedeutet 2700, wenn es
sich um die Zähleinheit 60 handelt usw.
Die nächst kleinere systemkonforme Zähleinheit unterhalb von 1
ist die Minute. 1 Minute ist der 60-ste Teil der Zähleinheit 1. Die
Kombination von Bild 5
bedeutet 45 Minuten, wenn es sich um die Zähleinheit 1 Minute
handelt. Obwohl 45 Minuten das Gleiche wie 3/4 ist, benötigt man
im Sexagesimalsystem die Bruchzahl 3/4 nicht. Entsprechend
werden viele elementare Brüche durch Minuten ausgedrückt,
1/2, 1/3, 1/4, 2/3, 1/6, 5/6, 1/12. - Die nächst kleinere Zähleinheit
unterhalb von 1 Minute ist die Sekunde. 1 Sekunde ist der
60- ste Teil der Zähleinheit 1 Minute.
Der systembedingte Zusammenhang von Dezimalzahlen
und Brüchen lässt uns verstehen, weshalb die Bruchzahlen
noch heute in Gebrauch sind. Sie sind als Zahlwörter und
Zahlzeichen Bestandteil der Sprache. Daher solten sie in unserer
Zeit im Unterricht nicht nur beiläufig, sondern systematisch
behandelt werden - Bild 6 zeigt ausgewählte Beispiele.
Für die unterrichtliche Behandlung der Brüche bietet sich
folgende Vorgehensweise an: Einem leicht unterteilbaren Objekt
wird die Zahl 1 zugewiesen, z. B. einem an der Tafel mit Kreide
oder Abdeckband mar- kierten Quadrat - Bild 7 links.
In dem Quadrat werden zunächst die Teilflächen von
Stammbrüchen: 1/2, 1/4, 1/3, 1/6 usw., anschließend die
Teilflächen von abgeleiteten Brüchen: 2/4, 3/4, 2/3, 2/6 usw.
mit Papp-Rechtecken dargestellt - 2/3 im
Bild 7 rechts.
Im Fall "Quadrat" akzeptieren die Schüler, dass man dem
Quadrat die Zahl 1 zuweist, denn es handelt sich um genau ein
Objekt. In vielen Fällen ist jedoch das Objekt bereits mit einer
Zahl belegt - Beispiel: "In einem Raum mit 100 Sitzplätzen
sind 75 besetzt. Wie groß ist der Bruchteil besetzter Plätze?"
Die Hemmschwelle, den 100 Sitzplätzen auf einer zweiten
Zählebene die Zahl 1 zuzweisen, kann herabgesetzt wer- den,
indem man vorab Aufgaben behandelt, die beide Zählebenen
er- kennen lassen. Beispiel: Bild 8 zeigt die spanische Flagge. Sie stellt
ei- nerseits die 1 dar, weil sie 1 Flagge ist, anderseits die 32, weil sie
durch ein Gitter unterteilt ist.
2. Bruchrechnen
Ägypter und Inder entwickelten allgemeine Schreibweisen
für Bruch- zahlen, die Ägyper für Stammbrüche, die Inder für
beliebige Brüche. Darüber hinaus entstanden in
beiden Kulturen Verfahren zum Rechnen mit Brüchen. Das
ägyptische Rechnen mit Stammbrüchen hielt sich bis ins
Hochmittelalter, wurde aber mit dem Aufkommen der
indischen Zahlschrift durch das indische, uns geläufige Rechnen
mit beliebigen Brüchen ersetzt.
Das Bruchrechnen erlebte seine Blütezeit im
ausgehenden Mittelalter. Infolge regionaler
Unterschiede zwischen Längen-, Gewichts-, Hohl-
sowie Geldmaßen mussten die Beziehungen zwischen
ihnen durch Brüche erfasst werden. Beispiel: Berliner
Pfund = 61/67 Nürnberger Pfund. - Ferner waren die
Beziehungen zwischen Einheiten desselben Maßes
nicht konstant. - Beispiele: 1 Heller = 1/2 Pfennig, 1 Pfennig =
1/12 Groschen, 1 Groschen = 1/21 Rheinischer Gulden.
Simon Stevin schlug 1586 in der Schrift "De Thiende" vor,
die gewöhn- lichen Brüche durch Dezimalbrüche zu ersetzen:
1/2 = 5/10 = 0,5 1/4 = 25/100 = 0,25
1/8 = 125/1000 = 0,125 1/3 = 3/10 + 3/100 = 0,33.
Ferner empfahl er, die unterschiedlichen Einheiten desselben
Maßes oder Geldwertes dezimal zu gliedern. Beispiel:
1 Pfennig = 1/10 Gro- schen, 1 Groschen = 1/10 Mark. -
Stevins Vorschläge wurden vor allem im 19. Jahrhundert
weltweit verwirklicht.
Es stellt sich die Frage, weshalb die Schule noch heute
Bruchrechnen vermittelt. Wäre es nicht ökonomischer, sich
auf das Rechnen mit Dezi- malbrüchen zu beschränken? -
Für die Behandlung des Bruchrechnens sprechen zwei Gründe: 1.
Da sich mehrere elementare Brüche im De- zimalsystem nicht auf
einfache Weise ausdrücken lassen - Beispiel 1/8 = 125/1000 = 0,125 -
kann man auf die gewöhnlichen Brüche nicht ver- zichten. 2.
Weil sich die Einheiten 1, 1/10, 1/100 in der Größe um den
Faktor 10 unterscheiden, kommt für Rechenhandlungen mit
Dezimal- brüchen nur das Zahlenstrahl-Modell - Bild 9: 0,14 + 0,09 = 0,23 -
in Betracht. Für Rechenhandlungen mit gewöhnlichen Brüchen
stehen neben dem Zahlenstrahl-Modell - Bild 10: 1/3 + 1/4 = 14/24 = 7/12 -
das Kreis-Modell - Bild 11: 1/2 + 3/8 = 7/8 - und das Quadrat-Modell -
Bild 12: 1/2 + 1/4 = 3/4 - zur Verfügung.